Keine Konsequenzen fehlender Zeiterfassung im Überstundenprozess

Das LAG Niedersachsen hat eine vielbeachtete Entscheidung des ArbG Emden zur Umsetzung des „Stechuhr-Urteils“ des EuGH aufgehoben. Nach Ansicht des LAG hat das Urteil des EuGH keine unmittelbaren Konsequenzen für die Frage der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess.

Der EuGH hatte es für geboten gehalten, dass die EU-Mitgliedstaaten Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die vom Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Insbesondere gehe es darum, Arbeitnehmern, Behörden und Gerichten die Prüfung der Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben zur wöchentlichen Höchstarbeitszeit sowie zu täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten zu ermöglichen. Die konkreten Modalitäten eines solchen Systems seien von den Mitgliedstaaten zu bestimmen und könnten branchenbezogenen Besonderheiten oder der Größe der Unternehmen Rechnung tragen.

Seit diesem EuGH-Urteil aus 2019 verfolgen die Arbeitgeber die Entwicklungen zu diesem Fall genau: bislang ist das Arbeitszeitgesetz in Deutschland noch nicht novelliert. Daher gelten die aktuellen (beschränkten) Aufzeichnungspflichten weiter.

Auf Grundlage des EuGH-Urteils hatte ein Arbeitnehmer im Rahmen einer Überstundenklage vor dem ArbG Emden eine Überstundenvergütung geltend gemacht. Er tat dies auf Basis technischer Zeitaufzeichnungen des Arbeitgebers. Weitere Arbeitszeitnachweise hatte der Arbeitgeber nicht geführt. Mit seiner Klage hatte der Arbeitnehmer in erster Instanz Erfolg.

Das ArbG Emden begründet das wie folgt: Der Arbeitgeber wäre aufgrund europarechtskonformer Auslegung des § 618 BGB (Fürsorgepflicht des Arbeitgebers) nach dem „Stechuhr-Urteil“ des EuGH zur Erfassung und Kontrolle der Arbeitszeiten des Arbeitnehmers verpflichtet gewesen. Angesichts des Versäumnisses, Arbeitszeitnachweise zu führen, müsse er deshalb die technischen Aufzeichnungen als Indiz der geleisteten Arbeitszeit gegen sich gelten lassen. Diese Indizien hätte der Arbeitgeber nicht, z. B. durch Darlegung von Pausenzeiten, entkräften können.

Der Arbeitgeber gab sich damit nicht zufrieden und zog vor das LAG Niedersachsen. Dieses hat das Urteil des ArbG Emden jetzt kassiert.

Nach Ansicht des LAG Niedersachsen wirkt sich das Urteil des EuGH zur Zeiterfassung nicht auf die Grundsätze der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess aus. Es begründet das wie folgt:

  • Der EuGH könne nur über die Auslegung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88 EG) und der EU-Grundrechtecharta entscheiden.
  • Er habe jedoch aufgrund der Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union keine Kompetenz zur Festlegung von Maßstäben, nach denen Arbeitszeiten zu vergüten seien.

Im konkreten Fall seien die Darlegungen des Arbeitnehmers bezüglich der von ihm geleisteten Arbeitszeit nicht ausreichend gewesen.

Das LAG hat die Revision zum BAG zugelassen. Es ist also damit zu rechnen, dass das BAG über die Frage entscheiden wird, ob aus der EuGH-Rechtsprechung eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur umfassenden Zeiterfassung folgt und ob es für den Arbeitgeber im Überstundenprozess nachteilig ist, wenn er solche Aufzeichnungen nicht beibringen kann.

Unabhängig von der Frage, ob das EuGH-Urteil zur Zeiterfassung unmittelbar wirkt, gilt jetzt schon:

  • Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, die über die Arbeitszeit des  § 3 ArbZG (acht Stunden pro Werktag) hinausgehende Arbeitszeit aufzuzeichnen (§ 16 Abs. 2 ArbZG). Verstöße gegen die Aufzeichnungspflicht können mit einem Bußgeld von bis zu 30.000 Euro geahndet werden.
  • Darüber hinaus sind Arbeitgeber u. a. verpflichtet, die tägliche Ruhezeit sowie die Einhaltung der insgesamt zulässigen Arbeitszeit (durchschnittlich acht Stunden/Werktag innerhalb eines Ausgleichszeitraums von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen; für Nachtarbeitnehmer innerhalb von einem Kalendermonat oder vier Wochen) sicherzustellen.

Die Thematik bleibt also weiterhin aktuell.  Im Zusammenhang mit der Nachweispflicht der Arbeitszeiten bzgl. Kurzarbeit haben daher Anfragen nach Zeiterfassungen stetig zugenommen.

 

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