Wie berichtet hat das BAG die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Einführung einer betrieblichen Arbeitszeiterfassung nun bestätigt: Ausgangspunkt des Rechtsstreits war die Frage, ob dem Betriebsrat gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht für die Einführung einer betrieblichen Zeiterfassung auch gegen den Willen des Arbeitgebers zusteht.
Das BAG argumentiert, dass dem Betriebsrat kein Mitbestimmungsrecht zur Einführung einer betrieblichen Zeiterfassung zustehen könne. Denn der Arbeitgeber sei bereits von Gesetzes wegen aufgrund der Bestimmungen des Arbeitsschutzgesetzes (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG) verpflichtet, eine betriebliche Arbeitszeiterfassung einzuführen. Die Pflicht zur Zeiterfassung begründet das BAG mit den allgemeinen arbeitsschutzrechtlichen Pflichten des Arbeitgebers. Es legt die arbeitsschutzrechtlichen Organisationspflichten des Arbeitgebers aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG so aus, dass sie eine unmittelbare Pflicht zur Einführung eines betrieblichen Arbeitszeiterfassungssystems enthalten.
Das BAG bezieht sich dabei auch auf die Vorgaben des europäischen Arbeitszeitrechts; es spielt damit auf das Urteil des EuGH vom 19.05.2019 zur Zeiterfassung an. Dort hielt es der EuGH für richtig, Arbeitgeber zu verpflichten, ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Der deutsche Gesetzgeber hatte allerdings bislang nicht auf das EuGH-Urteil reagiert. Nun hat das BAG dem Urteil des EuGH quasi auf dem Umweg des Arbeitsschutzgesetzes auch ohne eine Gesetzesänderung zur faktischen Durchsetzung auch im deutschen Arbeitsrecht verholfen.
Nach der BAG-Entscheidung ist davon auszugehen, dass die Verpflichtung zur Einführung einer betrieblichen Zeiterfassung auch über die Vorgaben des § 16 Abs. 2 ArbZG hinaus als öffentlich-rechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers bereits aufgrund der gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen besteht. § 16 Abs. 2 ArbZG verpflichtet den Arbeitgeber lediglich, die Dauer der über acht Stunden an Werktagen geleisteten Arbeitszeit sowie der an Sonn- und Feiertagen geleisteten Arbeitszeit aufzuzeichnen. Eine Aufzeichnung der Lage (Beginn und Ende) der täglichen Arbeitszeit und der Ruhepausen war dagegen arbeitszeitgesetzlich bisher nicht vorgesehen.
Auch vor der aktuellen Entscheidung des BAG war ein völliger Verzicht auf jegliche Art von Zeiterfassung für Arbeitnehmer, die dem Arbeitszeitgesetz unterliegen, also nicht zulässig. Dies konnten die Aufsichtsbehörden ggf. auch bußgeldrechtlich verfolgen ‒ was in der Praxis aber eher selten passierte. Mit der neuen Entscheidung des BAG erhalten die Aufsichtsbehörden nun weitere Möglichkeiten, die Pflicht zur Zeiterfassung durchzusetzen. Gemäß § 22 Abs. 3 ArbSchG kann die zuständige Arbeitsschutzbehörde mit verwaltungsrechtlichen Maßnahmen bis hin zu Ordnungsverfügungen und Zwangsgeldern Pflichten durchsetzen, die sich aus dem ArbSchG ergeben ‒ nun also auch die EuGH-konforme Zeiterfassung. Zuwiderhandlungen des Arbeitgebers gegen entsprechende behördliche Weisungen können mit einem Bußgeld bis zu 30.000 Euro geahndet werden.
Der Arbeitgeber ist somit auch ohne eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes arbeitsschutzrechtlich verpflichtet, für alle dem Arbeitszeitgesetz unterliegenden Arbeitnehmer eine betriebliche Arbeitszeiterfassung einzuführen. Die Pressemitteilung des BAG lässt leider nicht erkennen, wie die Zeiterfassung im Detail auszusehen hat.
Man wird den Hinweis des BAG auf die unionsrechtlichen Vorgaben so verstehen müssen, dass die Arbeitszeit zumindest so erfasst werden muss, dass die in der EU-Arbeitszeitrichtlinie konkret normierten Vorgaben zur Arbeitszeitgestaltung überprüfbar sind. Das bedeutet insbesondere, dass
- die Einhaltung der täglichen Ruhezeit (§ 5 ArbZG) sowie
- das Gesamtvolumen der geleisteten Arbeitszeit (Einhaltung des maximal zulässigen Arbeitszeitvolumens von durchschnittlich acht Stunden/Werktag bzw. durchschnittlich 48 Stunden/Woche; § 3ArbZG)
nachvollziehbar sein muss. Streng genommen würde das auch eine lückenlose Erfassung aller Ruhepausen (§ 4 ArbZG) bedeuten. Allerdings geht der EuGH an keiner Stelle auf diese Thematik ein, sodass sie u. E. zumindest offen ist.
Eine elektronische Zeiterfassung („Stempeluhr“) für Beginn und Ende der Arbeitszeit ist mit dem aktuellen Beschluss des BAG nicht verbunden. Es ist insbesondere für Arbeitnehmer, die in Vertrauensarbeitszeit arbeiten, weiter möglich, ihre Arbeitszeit selbst zu erfassen, so die aktuelle Lesart.
Praxistipp: Ein einfaches kostenloses Excel-Tool zur Selbsterfassung der Arbeitszeit, das sich auf die Einhaltung der täglichen Ruhezeit sowie des arbeitszeitgesetzlich zulässigen Arbeitszeitvolumens konzentriert, wird also auch zukünftig denkbar sein. Die exakte (minutengenaue) Erfassung der Arbeitszeit ist darin nur erforderlich, wenn vom hinterlegten Arbeitszeitmodell, das im Rahmen der gesetzlichen Grenzen der Arbeitszeit definiert ist, abgewichen wird. Bewegt sich der Arbeitnehmer dagegen innerhalb des Arbeitszeitmodells (grundsätzlich: Arbeitszeitdauer Montag bis Donnerstag jeweils max. zehn Stunden; Freitag max. acht Stunden; Samstag und Sonntag sowie Feiertage arbeitsfrei), so muss er dies bestätigen. Damit wird den Grundsätzen des zitierten Urteils des EuGH Rechnung getragen, ohne eine tägliche minutengenaue Zeiterfassung und Zeitkontenführung praktizieren zu müssen.
Genügt die betriebliche Zeiterfassung zwar den gesetzlichen Anforderungen des § 16 Abs. 2 ArbZG (Mengenerfassung der Arbeitszeit oberhalb von acht Stunden (Werktage Mo-Sa) und aller Arbeitszeiten an Sonn- und Feiertagen), nicht aber den (weitergehenden) Vorgaben des EuGH, so ist die Verhängung von Bußgeldern erst möglich, wenn die Arbeitsschutzbehörde eine vollziehbare Anordnung zur Umsetzung der Zeiterfassung auf der Grundlage des Arbeitsschutzgesetzes ausgesprochen hat. Es ist damit zu rechnen, dass die Aufsichtsbehörden die Umsetzung der Grundsatzentscheidung des BAG, mindestens aber die Einhaltung der bestehenden Aufzeichnungspflichten verstärkt einfordern werden. Verletzungen der bestehenden gesetzlichen Aufzeichnungspflicht (siehe oben) können dabei auch ohne besondere Verfügung bußgeldrechtlich sanktioniert werden.
Mitbestimmungsrechtlich ist die Frage des „Ob“ bei Einführung eines betrieblichen Zeiterfassungssystems der Mitbestimmung des Betriebsrats entzogen. Beim „Wie“ bestehen weiterhin Mitbestimmungsrechte.
Individualarbeitsrechtlich kann jeder Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Arbeitszeitgesetzes eine betriebliche Zeiterfassung einfordern ‒ muss aber auch das vom Arbeitgeber vorgesehene Zeiterfassungssystem nutzen.
Ein individuelles Recht des Arbeitnehmers, auf die Teilnahme an der Zeiterfassung zu verzichten, besteht nicht. Denn arbeitsschutzrechtlich verpflichtende Maßnahmen des Sicherheits- und Gesundheitsschutzes, wie sie die Zeiterfassung nach Auffassung des BAG darstellt, stehen nicht zur Disposition des einzelnen Beschäftigten. Die Weigerung oder stillschweigende Unterlassung der Nutzung eines betrieblichen Zeiterfassungssystems kann entsprechend geahndet werden (Abmahnung; ggf. auch verhaltensbedingte Kündigung). Die Arbeitsschutzbehörde könnte sogar ein Bußgeld (bis zu 5.000 Euro) gegen Arbeitnehmer verhängen, die sich einer Anordnung zur Verpflichtung der Zeiterfassung widersetzen ‒ was aber wohl eher eine theoretische Option bleiben dürfte.
Ob und wann es zu einer gesetzlichen Neuregelung der Arbeitszeiterfassung im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes kommt, ist weiterhin offen.